Like-Blog
So interessant können Übersetzungslösungen sein
Warum Like-Blog? Nun, zum einen ist dieser Blog ein Blog, den Sie mögen (und regelmäßig lesen) sollten – zumindest dann, wenn Sie sich für Übersetzungen interessieren. Zum anderen ist das hier behandelte Thema eines, in dem die sinnstiftende Ähnlichkeit zwischen einem Text und seiner Übersetzung im Sprachenpaar Englisch-Deutsch eine zentrale Rolle spielt. Auf dieser Seite diskutiere ich einige interessante Übersetzungslösungen, die mir im Laufe meiner Tätigkeit als Übersetzer und Übersetzungswissenschaftler über den Weg gelaufen sind.
Eine Übersetzungslösung ist immer nur so gut wie die sie stützenden Argumente. Wer also positive oder negative Übersetzungskritik übt, muss diese auch begründen. Wie gut eine Übersetzungslösung ist, erweist sich erst in Relation zu anderen möglichen Übersetzungslösungen in einer gegebenen Übersetzungssituation. Daher sollte ein Übersetzungskritiker oder eine Übersetzungskritikerin nicht nur sagen, warum eine Übersetzungslösung schlecht ist, sondern auch aufzeigen, wie eine bessere Lösung aussehen könnte. Diese Grundsätze der Übersetzungskritik werde ich versuchen zu beherzigen. Das bedeutet auch: Wenn Sie Fragen zu meiner Argumentation haben oder anderer Meinung sind, lassen Sie es mich gerne wissen unter 04171 6086525 oder per E-Mail an bittner@businessenglish-hamburg.de. Doch nun genug der einleitenden Worte. Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen!
Landtag (Juli 2020)
Kulturspezifika sind Elemente, die einer bestimmten Kultur eigen sind. In anderen Kulturen taucht ein solches Element entweder gar nicht oder aber in einer anderen Form auf. Bei der Übersetzung von Kulturspezifika stellt sich für die Übersetzerin die Frage, inwieweit es für das mit einem Begriff Gemeinte Entsprechungen in der Zielkultur gibt. Wenn es eine solche Entsprechung gibt (wie vage sie auch immer sein mag), stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, den zielsprachlichen Begriff für diese Entsprechung in der Übersetzung zu verwenden, oder ob anderen Alternativen der Vorzug gegeben werden sollte.
Am 29. April 2020 findet sich online im Tagesspiegel folgende Nachricht: „Um die Vorwahl in Ohio und in weiteren Staaten hatte es beträchtliches Gezerre gegeben. In Wisconsin griff sogar der Supreme Court in den Streit um Gesundheit und Demokratie ein. Ohio ist einer der traditionell entscheidenden ‚Battleground‘-Staaten in der Präsidentschaftswahl. Die Vorwahl sollte ursprünglich am 17. März stattfinden. Wegen der Corona-Pandemie untersagte der republikanische Gouverneur die Stimmabgabe im Wahllokal und wollte sie in den Juni verschieben. Der Landtag entschied sich dann für eine Briefwahl mit letztem Einsendedatum 28. April. Nach vorläufigen Ergebnissen bekam Biden 72,4 Prozent der Stimmen, Sanders 16,5 Prozent. Damit erhält Biden 78 Delegierte für den Nominierungsparteitag, Sanders 2.“
Sind Sie beim Lesen gestolpert? Wenn Sie diese Frage verneinen, weil Sie das Zitat nur flüchtig gelesen haben, lesen Sie es bitte noch einmal. Was mich beim Lesen stutzig gemacht hat, ist das Wort „Landtag“. Es bezeichnet normalerweise die Landesparlamente der deutschen Flächenländer und der österreichischen Bundesländer sowie die Parlamente von Liechtenstein, Südtirol und Trentino. In der obigen Nachricht bezieht sich „Landtag“ jedoch auf das Parlament des US-Bundesstaates Ohio, genauer gesagt, auf das gesetzgebende Organ dieses Bundesstaates: die Generalversammlung bestehend aus Repräsentantenhaus und Senat.
Sehen wir uns zum Vergleich einmal eine entsprechende Meldung der Washington Post online an, ebenfalls vom 29. April 2020: „Ohio’s primary was original scheduled for March 17, but the governor canceled in-person voting for that day. He had originally said the primary would be held June 2, but the legislature settled on April 28. Almost all voting was by mail, and votes cast before the original date counted.“ Das Parlament von Ohio wird hier als „legislature“ bezeichnet.
Wie ist nun die Übersetzung zu beurteilen? Sie ist nicht falsch, wirkt aber wegen der Benennung eines amerikanischen Kulturspezifikums mit dem Begriff für ein im deutschsprachigen Raum verortetes Kulturspezifikum zumindest ungewöhnlich. Beim sogenannten dokumentarischen Übersetzen – also der Übersetzung von Dokumenten zum Beispiel für gerichtliche Zwecke – ist es durchaus üblich, die Namen ausländischer Gerichte durch Bezeichnungen für deutsche Gerichte wiederzugeben, wenn diese in etwa die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts reflektieren. Im gegebenen Fall handelt es sich jedoch erstens nicht um eine dokumentarische Übersetzung und zweitens ist das Kulturspezifikum kein Gericht. Um sich die Wirkung der Übersetzung von „legislature“ (oder irgendeinem anderen Begriff für das Parlament von Ohio) mit „Landtag“ vor Augen zu führen, stellen Sie sich einmal folgende Meldung vor: Der Bundestag hat das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Trump eingeleitet. Selbst wenn aus dem Kontext klar hervorgeht, dass hier nicht das deutsche Parlament gemeint ist, wird sich die Leserin verwundert die Augen reiben. Meine Empfehlung für die Wiedergabe bundesstaatlicher US-Parlamente ist daher entweder eine wörtliche Übersetzung der englischen Bezeichnung (legislature – Legislative; General Assembly – Generalversammlung) oder die Verwendung eines allgemeineren Begriffs (zum Beispiel: Parlament von Ohio).